Wien, Zentrum der österreichischen Demokratie, mit dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) – einer Institution, die das Recht des Volkes hüten und schützen soll. Doch was bleibt von diesem Grundsatz, wenn der Zugang zum Gericht verwehrt wird? Diese Frage drängt sich auf, wenn man die Erfahrung einer Geschäftsführerin einer GmbH betrachtet, der am 29. August 2024 der Zugang zum Verfassungsgerichtshof verwehrt wurde.
Diese Erfahrung wirft ein grelles Licht auf die aktuelle Praxis des VfGH sowie weiterer Gerichte, den Zugang zur Gerichtsbarkeit zu reglementieren. In einer Zeit, in der Vertrauen in staatliche Institutionen eine immer größere Rolle spielt, ist es besorgniserregend, dass ein so zentrales Recht wie das auf Zugang zum Gericht zunehmend eingeschränkt wird. Der Verfassungsgerichtshof, der in großen Buchstaben verkündet „Ihr Recht geht vom Volk aus“, hält damit ausgerechnet dieses Volk auf Distanz.
Mitten im Zentrum von Wien ist der Verfassungsgerichtshof platziert. Auf der Rückwand Richtung „Am Hof“, auf die Mariensäule schauend, steht in großen gut sichtbaren Buchstaben „Ihr Recht geht vom Volk aus“.
Die Wand hinter der Richterinnen- und Richterbank im Verhandlungssaal des Verfassungsgerichtshofes prägt auf der rechten Seite der Spruch „Ihr Recht geht vom Volk aus“.
Links von der Richterinnen- und Richterbank als Spruch: „Österreich ist eine demokratische Republik“.
Foto: VfGH/Achim Bieniek
Diese Ansicht von innen kennt man nur aus den Fotos auf der Webseite des Verfassungsgerichtshofes.
Trotz des Aushangs beim Eingang in den Verfassungsgerichtshof „Die Geschäftsstelle ist zu folgenden Zeiten für den Parteienverkehr geöffnet: Montag bis Freitag von 8 bis 15 Uhr“ gelangt man ohne Termin nicht hinein.
Schafft man die Hürde „Portier“ zu überwinden, bekommt man den Generalsekretär vom VfGH zu sprechen. Das Gespräch findet beim Portier statt, im engen Durchgang zwischen der Eingangstür mit der Aufschrift „Besucher“ und der Schleuse, durch die Sprechanlage hinter dem verglasten Schalter.
Kein Parteienverkehr ohne Termin
Der Vorfall ereignete sich am 29.8.2024 um 9 Uhr 20.
Der VfGH ist über ein schweres über 3 Meter großes Gittertor begehbar. Dass es sich dabei um den VfGH handelt, erkennt man an der kleinen Glastafel links vom Tor mit einer Miniaturschrift „Verfassungsgerichtshof“.
Nach dem Tor, keine zwei Meter entfernt, drei Türen (eine für Besucher, eine für Hinausgehende und eine für Dienstnehmer). Vor der Besuchertür, welche sich ganz links befindet, ist eine Säule mit der Aufschrift „Portier“ und ein Knopf zum Läuten.
Man kommt sich wie in einem hochgesicherten Straflager vor. Willkommen fühlt man sich hier nicht.
Nach dem Läuten meldet sich der Portier und erfragt, was man braucht. Gibt man bekannt, dass man zur Akteneinsicht kommt, ist die erste Frage: „Haben Sie einen Termin?“.
Hat man keinen Termin wird man damit vertröstet auf die Terminvergabe zu warten. Diese bekommt man schriftlich zugeschickt.
Der Portier trifft somit beim VfGH die Entscheidung darüber, ob man das Recht hat beim VfGH am Rechtsverkehr teilzunehmen oder nicht. Man sollte annehmen, dass sich seine Aufgabe darauf beschränkt zu kontrollieren, ob man keine verbotenen Substanzen oder Gegenstände in das Gebäude hineinschleust.
Die Geschäftsführerin einer GmbH verwies darauf, dass ein Antrag auf Akteneinsicht gestellt wurde und damit die Akteneinsicht zu erteilen ist. Es handelt sich um eine unaufschiebbare Angelegenheit, weshalb sie nicht auf eine Antwort mit Terminangabe warten kann. Sie ist extra nach Wien angereist, um die Akteneinsicht zu machen. Auf der Schulter befand sich die ganze Zeit ihr 4-jähriger Sohn.
Der Portier blieb hartnäckig und pochte darauf, dass Zutritt ausschließlich mit einem Termin möglich ist.
Links von der Eingangstür mit der Aufschrift „Besucher“ befindet sich eine Tafel.
Ganz oben ist die Aufschrift:
„Die Geschäftsstelle ist zu folgenden Zeiten für den Parteienverkehr geöffnet: Montag bis Freitag von 8 bis 15 Uhr.
Dort erhalten Sie das – auch im Internet herunterladbare – Formular für die Einbringung eines Verfahrenshilfeantrages und die Abgabe eines Vermögensbekenntnisses. Ein derartiger Antrag kann in der Geschäftsstelle auch zu Protokoll gegeben werden.“
Die Geschäftsführerin einer GmbH läutete somit erneut beim Portier.
Sie verwies auf den Aushang beim Eingang und dass sie ihr Recht auf Parteienverkehr ausübt.
Als Antwort kam, dass bereits eine Akteneinsicht beim VfGH stattfindet und es nicht so leicht ist, eine Akteneinsicht zu organisieren.
Durch das Beharren der Geschäftsführerin der GmbH auf ihrem Recht auf Parteienverkehr und dass sie nicht hineinzulassen eine Verletzung dieses Rechtes darstellt, bat der Portier sie kurz zu warten. Nach einer Weile kam er zurück und ließ sie in den schmalen Gang zwischen der Tür mit der Aufschrift „Besucher“ und der Schleuse hinein.
Am Schalter hinter dem Glasfenster war der Generalsekretär des VfGH. Das Gespräch fand über die Sprechanlage statt.
Es war gespenstisch. Man wird behandelt wie ein Schwerstverbrecher. Dabei will man ausschließlich das Recht auf ein faires Verfahren ausüben. Demgemäß ist das Recht auf den Zugang zum Gericht zwecks Ermittlung von Rechtsinformationen und Akteneinsicht, um eine wirksame Beschwerde erheben zu können, in das Recht auf ein faires Verfahren impliziert und durch die EGMR gesichert.
Die Geschäftsführerin der GmbH hat an diesem Tag weder Akteneinsicht erhalten noch an dem am Aushang vor dem Eingang zugesicherten Parteienverkehr teilgenommen. Ihr wurde allerdings zugesichert, dass bereits eine Bekanntgabe eines Termines zur Akteneinsicht postalisch an die GmbH unterwegs ist.
Verbittert und gezwungen auf den Termin zur Akteneinsicht zu warten, verließ die Geschäftsführerin der GmbH den Verfassungsgerichtshof in der Erwartung demnächst zum VfGH zu kommen, um eine Akteneinsicht zu nehmen.
Was sie schließlich erhielt, war jedoch keine Terminzusage, sondern eine weitere Verzögerung.
Statt einer Bekanntgabe eines Termines zur Akteneinsicht kam eine Note des VfGH mit der Bitte um Mitteilung „ob der Antrag auf Akteneinsicht weiterhin aufrecht bleibt.“ Das bedeutet: weitere 14 Tage Wartens.
Die Wurzeln derartiger Vorgehensweise der Gerichte liegen in der Coronazeit.
Die Gerichte haben die Einschränkungen während der Pandemie, welche ausschließlich auf den Schutz der Gesundheit beruhten, auf den Zugang zum Gericht und somit der Gerichtsbarkeit allgemein ausgebreitet.
Vor der Coronakrise war eine Terminvereinbarung zwecks Akteneinsicht weder notwendig noch gebräuchlich. Es gab keine Befragung bei der Schleuse durch die Security: „Wo will man hin? Welches Zimmer? Welche Abteilung? Wie heißt die Dame? Haben Sie einen Termin?“
Die Security war ausschließlich mit ihrer zugetrauten Aufgabe beschäftigt: Sicherheitskontrolle.
Man wurde durchgelassen und übte sein Recht auf Parteienverkehr aus, indem man sich in die Kanzlei begab, die Akteneinsicht anforderte und auch diese gleich bekam, Fragen stellte und sich über seine Rechte informierte und sich die zur Erhebung einer wirksamen Beschwerde notwendige Informationen besorgen, etc..
Zusammengefasst: Man übte sein Recht auf ein faires Verfahren aus.
Laut den Feststellungen des EGMR umfasst dieses Recht auch das Recht auf Zugang zu einem Gericht.
Dieses Recht impliziert gem. Art. 47 der EU-GRC auch das Recht sich in Bezug auf seine Rechtsinteressen zum Zwecke der Ausübung einer wirksamen Beschwerde beim entsprechenden Gericht zu informieren.
Art. 6 EMRK lautet:
„Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat.“
Art. 47 der EU-GRC lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.“
Die Gerichte verlieren den direkten Draht zum Volk
Der beschriebene Vorfall ist kein Einzelfall, sondern symptomatisch für eine Justiz, die sich immer weiter von den Menschen entfernt, denen sie eigentlich dienen soll.
Die Rechtfertigung der Gerichte für das faktische Ausschließen der Rechtsunterworfenen vom Zugang zum Gericht lautet: wenn man ohne Termin Akteneinsicht zulassen würde und ständig wen ohne Termin drinnen hätte, wären Gerichte ausschließlich mit dem Telefonieren, Sprechen etc. beschäftigt und hätten keine Zeit für Erledigungen mehr.
Doch dieser Ansatz führt zu einer Spirale der Bürokratie, in der Erledigungen hinausgezögert und Bürgerinnen und Bürger zum wiederholten Nachhaken gezwungen werden.
Noch verbitterter ist es, dass es zu keinem Meinungsaustausch, zu keinen Brainstormings mehr zwischen der Richterschaft und den Rechtsunterworfenen kommt. Die Gerichte verlieren den direkten Draht zum Volk, die Justiz entfernt sich von der Gerechtigkeit – oft, ohne dass es den Entscheidungsträgern bewusst wird.
Wie die Politik verliert die Gerichtsbarkeit den Draht zum Volk, von welchem laut der Aufschrift an der Mauer des Verfassungsgerichtshofes ihr Recht ausgeht. Was vice versa dazu führt, dass das Volk den Glauben an die Gerechtigkeit verliert.
Es ist an der Zeit, über den Zustand unserer Justiz nachzudenken. Der Verfassungsgerichtshof muss sich fragen, ob er nicht genau das Vertrauen verspielt, das er eigentlich bewahren soll.
Eine Rückkehr zu einem offeneren, zugänglicheren Umgang mit den Bürgerinnen und Bürgern wäre nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, um die Glaubwürdigkeit der Justiz wiederherzustellen.
Die Lösung könnte in einer Rückkehr zu einem „kaiserlichen Empfang“ liegen, bei dem die Bürgerinnen und Bürger Ernst genommen und ihre Anliegen behandelt werden.
Es darf der Grundsatz auf der Rückwand des Verfassungsgerichtshofes - das Recht geht vom Volk aus – nicht aus den Augen verloren gehen. Das sollte auch in der täglichen Praxis des Verfassungsgerichtshofs spürbar sein.
vs