Man wird als Frau/Mann, Mädchen oder Bub, oder sagen wir es neutral: weiblich oder männlich geboren. Intuitiv kennt man seine Rolle im Leben. Doch es spielt in der Entwicklung jeder Frau bzw. jedes Mannes noch ein zweiter, viel mächtigerer Faktor mit – die Gesellschaft. Von dieser wird uns vorgeschrieben, oft mehr vorgegaukelt, wie wir zu sein haben. Jeder, der vom "Ideal" abweicht, ist eine Fehlgeburt und sollte am besten nach der griechischen Tradition von einem Berg heruntergeschmissen werden, um mit seinem Wesen die Gesellschaft nicht zu verseuchen. Manchmal schafft es eine Frau, die gesellschaftlichen Vorstellungen zu durchbrechen, indem sie sich einfach gegen die patriarchalische Tradition stellt. So wie Albaniens Mann-Frauen.
In Albanien, einem Land mit muslimischer Religion, wo Frauen keine Rechte haben, als Maschinen zum Zwecke der Kinderzeugung und Führung des Haushaltes gesehen werden, wo Frauen der Zugang zur Schule verweigert wird und die Zwangsheirat an der Tagesordnung steht, leben die „eingeschworenen Jungfrauen“, auch „Burrnesha“ (kleiner Mann) genannt. Mann-Frauen gehören zu einer langen albanischen Tradition, die im Norden der albanischen Berge nach wie vor Realität ist.
Verliert die Familie ihren Patriarchen (Vater und/oder Bruder), so muss die älteste Tochter seinen Platz einnehmen. Dies aber nicht als Frau, sondern als Mann. Dafür muss sie schwören niemals zu heiraten, niemals Kinder und niemals Sex zu haben und ab nun ausschließlich männliche Kleidung zu tragen und sich wie ein Mann zu verhalten. So eine Entscheidung reift wohl nicht an einem Tag, sagen sie?! Was für unsere europäische Gesellschaft unvorstellbar ist, lässt sich aufgrund der Lebenssituation in den muslimischen Ländern wie Albanien leicht nachvollziehen. Nicht alle Mann-Frauen sind zu solchen aufgrund ihrer familiären Verpflichtung geworden. Viele entscheiden sich eigenständig für ein freies Leben ohne Zwang.
Eine albanische Frau ist rechtlos. Sie wird verkauft, zwangsverheiratet. Aus der Sicht der muslimischen Länder ist eine Frau eine Maschine für Kinderzeugung und Haushaltsführung und werden ihr daher alle Wege zur Ausbildung abgeschnitten. Zwangsverheiratet verrichten muslimische Frauen ihre Pflicht: familiäre (Haushalt und Kinderzeugung) und sexuelle. Und dies ist nur der Gipfel des Eisbergs.
Doch wird man zur Mann-Frau, bekommt man als Frau in Männerkleidung (Mannwerdung ohne operativen Eingriff) gleiche Rechte wie ein muslimischer Mann. Eine Mann-Frau wird respektiert, auf ihre Meinung wird gehört. Sie kommt in eine Kneipe und wird wie ein gleichgesinnter wahrgenommen. Auf einmal hat sie keine Verpflichtungen mehr und ist einfach nur frei.
Sprich, der Verzicht auf Sex und Muttersein erlauben es einer albanischen Frau, eine gesellschaftliche Position zu erreichen, die sie als Frau in Albanien nie bekommen würde: eine Position des Respektes. Ist es ein großes Opfer? Für die muslimischen Frauen ist es eher die Rettung von Zwangsheirat, Zwangssex, eine Möglichkeit, ihre Zukunft und ihr Leben selbst zu gestalten.
Doch ist diese Form von Respekt auch ohne Verzicht auf Sex und Muttersein erreichbar? Warum lässt sich eine Frau einem Mann unterordnen? Dafür ist wohl eine weitere gesellschaftliche Vorstellung, der zufolge behauptet wird, dass sexuelles Verlangen männlich sei und Frauen ihre diesbezügliche Pflicht gegenüber dem Mann erfüllen sollten, verantwortlich. Jedoch, wenn sich unter anderem europäische Frauen und Frauen in weiteren entwickelten Ländern emanzipiert haben, sollte dies auch den albanischen Frauen möglich sein. Das einzige, was fehlt, ist das Selbstvertrauen. Denn solche unglaublichen Geschichten wie von der eigenständigen, mutigen und nicht zu brechenden Mulan aus dem gleichnamigen Trickfilm sind nicht nur Phantasien der Lyriker, sondern ein Schrei nach Freiheit und Selbstbestimmung.
Titelbild: Leonardo da Vinci
Foto rechts im Text: Artus, Thomas-Les Hermaphrodites, 1605
Foto links im Text: Ismael Nery - Andrógino