Nicht „Nathan der Weise“, sondern das Lustspiel „Minna von Barnhelm“ ist das bühnenwirksamste Stück des Gründungsvaters des deutschen Dramas. Vielleicht auch, weil es zeitlose Liebeshändel sprachgewandt in die zeitgeschichtliche Situation nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763) einbettet. Im Grazer Schauspielhaus spielt man eine abgeschlankte Version, in der zwei Nebenfiguren gestrichen wurden: der Leutnant Riccaut und Minnas Oheim, der Graf von Bruchsal (Sein Erscheinen lässt in der Originalfassung die tatsächliche Begierde Minnas nach Tellheim hervorbrechen.) Erhalten bleibt die zentrale Achse, die frau glatt für eine frühe Blüte der Emanzipation halten könnte: Männliches Ehrgefühl wird durch weibliche Liebesschlauheit konterkariert. Der abgedankte, vorerst verarmte Major Tellheim wird von seiner ehemaligen und nun wiederbelebten Liebe, dem Edelfräulein Minna, mehrmals ob seiner Gefühle in die Enge getrieben: Zählt für ihn die individuelle, private Zuneigung oder das öffentliche Ansehen? Kann er nur lieben, wenn nicht er selbst sich in unehrenhafter Lage als Schuldner großer Geld-Summen, sondern seine Geliebte sich im Unglück befindet?
Test der Regie: schlampig oder enthistorisierend?
Gleich zu Beginn der Aufführung lässt der Diener von Tellheim, der inzwischen sprichwörtlich gewordene Just, einen Wulst von sattsamen After-Ausdrücken los – ein Zugeständnis an die Halbstarken vom Jakominiplatz (dem schlecht beleumundeten Grazer Verkehrsknotenpunkt), die von ihren Deutschlehrern hier hereinbeordert wurden. Im Laufe der Aufführung gesellt sich zu dieser Schrulligkeit das häufige Tragen von Unterwäsche. Bald wird auch klar, was hier die Zuschauer noch plagen wird: die öfters undeutliche bis unhörbar leise Aussprache der Figuren. Zieht man das nicht sonderlich originelle, nie sich verändernde Bühnenbild – zwei hohe weiße Vorzimmerwände aus Kunststoff mit Noppen – hinzu, könnte man die Intention der Regie statt Abkratzen der 250-jährigen Patina als Agieren auf einem anstrengungsschwachen heruntergebrochenen Niveau bezeichnen. Oder gar als Versuch herauszufinden, wie schluderhaft bzw. zwangsmodern man diesen Klassiker inszenieren (Regie: Elmar Görden) kann, ohne dass die ironisierende Distanz zur Entstehungszeit einen Schatten von lästiger Zersplitterung wirft. Solche Zweifel hegt auch das Publikum, bleiben doch viele Plätze entgegen den löblichen Premieren-Kritiken frei. Als origineller Witz entpuppt sich der Running Gag mit (angesägten) Sesseln, die ungleich lange Füße haben. Jedes Mal muss man fürchten, insbesondere der sich oft setzende Tellheim würde umkippen und unfreiwillig hart landen. Würde er tatsächlich einmal – die Tragikomödie wäre perfekt. Neben Tellheim und Minna, an denen sich das das zeitlos aktuelle Wechselspiel von Verliebtheit und Verletztsein hochschaukelt, pflegen auch ihre Kammerzofe Franziska und sein Wachtmeister Paul Werner ihre Koketterie mit- und gegeneinander. An ihnen allen exemplifiziert Lessing seine Synthese von Verlachen und Bedauern: „Das Possenspiel will nur zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel will nur rühren; die wahre Komödie will beides.“ So wechseln die weißen Wände ihre Bedeutung zu Wänden eines Irrenhauses, als alle Figuren am Höhepunkt der Konfusion von Liebe, Ehre, Geld und Verstellung dagegen springen.
Sächsischer Dialekt versus Tragödienton
Die Pointen, vor allem in Gestalt der sächselnden Kammerzofe (groß aufspielend: Sophie Hottinger), treffen erheiternd. Jan Thümer gibt einen flotten, facettenreichen Tellheim, Stefan Suske einen tumb witzigen Just. Bei Minna (Verena Lercher) soll die ungewöhnliche Brille wohl ihre Intellektualität unterstreichen. Gerhard Balluch gibt einen bisweilen pensionslahmen Wirt. Die Aufführung gewinnt an Schwung, trotzdem schreien die Figuren recht willkürlich an irgendwelchen Stellen auf. Als happy End fallen sich Tellheim und Minna in die Arme, wobei Verena Lercher in eine Lache verfällt, von der man nicht weiß, ist dieses Gekicher etwa ein sinniges Fallen aus der Rolle?
WaHo
Fotos: Lupi Spuma