Sobald mir das Fazit und der Grundgedanke der Uraufführung „Jackpot“ (Regie Igor Bauersima), die am 26.01.2012 in den Kammerspielen ihre Premiere feierte, klar wird, erinnere ich mich unfreiwillig an das Gespräch, das ich unmittelbar vor dem Theaterbesuch mit meiner Redaktionskollegin Luisa, die ebenfalls bei der Premiere live dabei war, geführt habe. Bei diesem haben wir ebenfalls das Thema Sexualität angesprochen. Es wurde thematisiert, ob unter den Frauen, die mit ein und dem gleichen Mann eine sexuelle Beziehung angefangen haben, biologische Rivalität bzw. Eifersucht entstehen kann und ob gesellschaftliche Vorstellungen mit der Natur übereinstimmen. Ganz unbewusst und ganz spontan wurde das Thema angesprochen. Jedoch entstand bei mir ein déjà-vu-Gefühl, als ich nun mit dem Thema, durch die Geschehnisse und die Gespräche auf der Bühne, wiederholt konfrontiert wurde. Fazit des Gespräches ist folgende Annahme: da die Frau auswählt, kann sie auch mit keiner anderen Frau rivalisieren bzw. keine andere Frau als Rivalin sehen. Réjane Desvignes, eine Schweizerin, die in Genf ihr Studium in Wirtschafts- und Sozialgeschichte abgeschlossen hat, präsentiert in Zusammenarbeit mit Igor Bauersima nun eine andere Seite der Medaille. Ihre Sichtweise wurde uns durch das Unterhaltungsstück mit dem klärenden Inhalt, das durch Schockeffekte und groteske Geschichten zum Ausdruck kommt, näher gebracht. „Grand Guignol“, eine Form der Theateraufführung, die man aus dem Französischen übersetzt als „großer Kasperl“ verstehen würde.
Auch wenn Jack nur ein australischer Surfer ist, der Eis verkauft und in seiner Freizeit kifft, hat er eine Eigenschaft die drei Freundinnen, Nathalie (Alexandra Krismer), Ella (Hilde Dalik) und Inés (Sona MacDonald), anlockt: Er kennt alle möglichen Kamasutra-Stellungen und kann diese bedingungslos in die Praxis umsetzen. Diese Fähigkeit empfinden alle drei als besonders reizvoll und jede geht (naturgemäß in der völligen Ahnungslosigkeit der anderen zwei) eine Affäre mit dem „sexbewussten“ Eismann Jack ein. Auch wenn für Inés der heiße Argentinier als der mit dem richtigen Sperma für ihr mittlerweile drittes(?!) Kind gesehen wird, scheint offenbar für keine der Frauen die Beziehung mit ihm eine positive Erfahrung zu sein. Und kann ein Mann der kifft und gerade noch mit dem Eisgeschäft über die Runden kommt, ein guter Liebhaber sein? Welche Mechanismen spielen sich denn ab, dass drei Frauen, die mit ein und demselben Mann schlafen, im Endeffekt einander rivalisieren? Und warum will Ella "Frau seines Lebens" von ihm genannt werden, bevor sie zu dem Mann geht und ihm ihre Wünsche äußert? Ist schlechter Sex besser als gar keiner? Der Mann, in diesem Falle Jack, wird zwar mehrmals thematisiert, spielt jedoch in dem Stück keinerlei Rolle.
Zum Thema des Stückes sind auch unterschiedliche Stereotype geworden. Ella, eine Sekretärin, „typisch“ blond, sprich nicht besonders intelligent, wird auch sexuell als eine „Büroprostituierte“ dargestellt. „Er sagte, wir müssen professionell bleiben“, wiederholte sie ihren Chef. Die Phrase kam zur Aussprache, nachdem die Pfoten seines Kabinetts erneut auf dem Schreibtisch aufgingen. Gleich vorurteilhaft wird eine vielfache Mutter einfach als „Mutter“ abgestempelt. Die hübsche und von links und rechts perfekte Vivi (Silvia Meisterle), die eine weiche Ausstrahlung hat, lieb, reizvoll und und und ist, ist nicht nur im Besitz eines umfangreichen Wissens, was für eine Wissenschaftlerin eh typisch ist, sondern auch eine besondere Intelligenz. Wie ist der Zusammenhang zwischen Wissen und Intelligenz? Gibt es Wissen ohne Intelligenz und Intelligenz ohne Wissen?
Im Allgemeinen wirft das Stück die Frage „Was es bedeutet eine Frau zu sein“ auf und stellt durch das ausschließliche Spiel von vier Frauen (Männer kamen nicht in Person vor) ein starkes ausdruckvolles Frauendomain dar.
Die Bühne in Form eines kleinen Parks mit einem Spielplatz, stellt den Freiraum für einen weiteren Stereotyp dar: Eine Frau wird zugleich als Mutter gesehen, und hält sich somit oft in der Nähe eines Spielplatzes oder eines Parks auf. Eine Frau, die mit dem Kind einen Theaterbesuch oder einen Ausflug in die Berge oder zum Wandern macht, wird eher als Seltenheit betrachtet. Auch wenn man in der letzten Zeit die, eher mit ihrer Situation unglücklich wirkenden, Väter am Sonntag am Spielplatz sichtet, die der „Mutter“ einen Tag „Urlaub“ von den Kindern und dem Haushalts-Kram schenken. Die Kostüme von Johanna Lakner, die modernen Schnitt und Stil hervorheben, zeigen eine moderne Frau selbstbewusst und zielorientiert. Ich habe mir sogar so einige Farb- und Schnittkombinationen abgeschaut.
Der volle Saal schenkte den Schauspielern laufend reichlich Gelächter und wärmte sie beim Verbeugen ausgiebig mit lautem Applaus. Nach dem Stück auf dem Weg Richtung Schottentor, besprach ich mit Luisa das Gesehene, Erlebte und die Eindrücke. Fasziniert hat vor allem, dass dieses Stück die Sichtweise einer Frau wiedergibt, die von einem Mann so in der Form wiedergegeben wird. Auch wenn die Verlockung der Premierenfeier, das sich ziemlich unpraktisch von den Kammerspielen in das Foyer des Theaters in der Josefstadt platzierte, groß war, war mir mein müdes Kind viel wichtiger. Der allerbeste Abschluss eines genussvollen Abends ist ein auf dem Arm schlafendes glückliches und sich geborgen fühlendes Kind.
Wer sich einen eineinhalb Stunden Abend voll philosophischem Nachdenken leisten will, möge bitte eine Einladung zur Uraufführung „Jackpot“ in den Kammerspielen demnächst annehmen.
Varvara Shcherbak
Foto: Erich Reismann