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Die Angst und Ignoranz der Gesellschaft vor der Natur
31.03.2020
„Geburt ist die gefährlichste Stunde im Leben eines Menschen", werden Geburtshelfer zitiert.
 
„Wer haftet für das Risiko Geburt?" liest man in den Zeitungen.
 
„Die Geburt ist ein natürlicher Vorgang und bedarf grundsätzlich keiner speziellen medizinischen Hilfsmittel", sagen die Hausgeburtshebammen.
 
„Jede Geburt ist ein Wunder“, liest man wiederum in den Zeitungen.
 
Die Geburt ist etwas Banales und vollkommen alltägliches, ein Anfang, etwas vollkommen Natürliches, ein komplexer natürlicher Prozess. Die Geburt als einen komplexen natürlichen Prozess erklärt uns Sarah Schmied, Alleingebärende, Mutter von 8 Kindern, zwei davon Zwillinge, ausgebildete Ärztin in ihrem Video „Geburt verstehen“.
 
Anhand von weiteren Beispielen komplexer natürlicher Prozesse, welche Sprechen, Gehen, Laufen lernen, Atmen, Fortpflanzung, krank- und gesundsein, Wettergeschehen, Jahreszeiten, Entstehung von Tag und Nacht u.a. sind, versucht Sarah Schmied, eine andere Seite der Geburt zu beleuchten, weg vom ärztlichen Stress, Kaiserschnitt, Risikoschwangerschaften, Saugglocke, Wehentropfen etc. Man bekommt die Geburt als einen natürlichen Prozess nachgezeichnet, als etwas, das einfach passiert, ohne dass man in diesen Prozess eingreifen muss, ihn fördern muss, ohne dass dieser Prozess in einem Labor nachgebastelt werden kann. Geburt als ein gutartiger Prozess, welcher dafür ausgelegt ist, das Leben zu erhalten und das Leben zu fördern. 
 
Natürlich bedarf es dafür, dass dieser natürliche komplexe Prozess „normal“ abläuft, einer robusten gesunden Grundverfassung. Jemand mit einem schwachen Immunsystem besitzt keine robuste gesunde Grundverfassung und gehört dann tatsächlich zu einer Risikogruppe. 
 
Eine weitere Voraussetzung eines natürlichen Ablaufs ist der geschützte Raum, eine nährende Umgebung. 
 
Sind diese beiden Voraussetzungen vorhanden, kann die Natur ihren Lauf nehmen und ist jegliche Einmischung kontraproduktiv.  Hilft man einer Blüte beim Aufblühen, indem man ihr die ersten Blütenblätter öffnet, wird die Blüte nicht besser aufblühen, sondern man tut ihr dadurch eher unrecht und sie schließt sich, statt sich zu öffnen, weil sie sich bedroht fühlt. Natürliche Prozesse brauchen Zeit und Geduld. Ungeduld, Angst, Selbstüberschätzung, künstliche Kontrolle, Lenkung, welche aus dem Bedürfnis des Menschen, alles unter seiner Kontrolle zu haben, erwachsen, haben bei einer Geburt, welche ihrem natürlichen Lauf folgt, bei einer Frau mit einer robusten gesunden Grundverfassung, welche in einem geschützten Raum und nährender Umgebung gebärt, keinen Platz und sind kontraproduktiv. 
 
Richtig zum Nachdenken bringt die Aussage, dass Landwirte mehr Ahnung von einer Geburt haben als Geburtshelfer und Ärzte und sogar einige Hebammen. Denn diese sind tagtäglich in Berührung mit den komplexen natürlichen Prozessen und diese stellen daher für sie keine Herausforderung mehr dar, erzeugen keine Angst. Im Gegensatz zu den Landwirten sind Ärzte für krankhafte Vorgänge ausgebildet, welche der Körper selbst nicht in den Griff bekommt. 
 
Leider haben wir Menschen uns durch unsere gesellschaftlichen Konstruktionen, konstruierte Realitäten, künstliche Erzeugnisse so weit von der Natur entfernt, dass wir jegliche natürliche Prozesse ignorieren, weil wir nicht einmal mehr die Fähigkeit dazu haben, diese zu verstehen. 
 
Umso mehr erschreckt dann die Gesellschaft die Tatsache, dass es viele Frauen gibt, welche sich für eine Alleingeburt ohne Hilfe einer Hebamme oder eines Arztes entscheiden. 

 
Eine Geburt als Standard?
 
So ist selbst schon die Vorstellung, dass es eine „einzige“ Geburt die richtige Geburt ist weit entfernt von dem natürlichen Geschehen. Der Dokumentarfilm der Regisseurin Gilles de Maistre „Der erste Schrei“ aus dem Jahr 2007 gibt einige Einblicke in die Geburten, wie diese auf unterschiedlichen Kontinenten unserer Erde stattfinden, wie diese von verschiedenen Frauen wahrgenommen und erlebt werden. 
 
Eine der Protagonistinnen, eine Französin, entscheidet sich für eine Alleingeburt ohne Hilfe von einer Hebamme oder eines Arztes, da sie sicher ist, dass sie selbst weiß, was zu tun ist, als Frau. Man merkt im Verlauf die Unsicherheiten, welche alle Beteiligten, der Freund der Alleingebärenden, ihre Umgebung, deren Eltern laufend äußern und wie sie versuchen, mit diesen Unsicherheiten auf ihre Art und Weise umzugehen, diese zu umschiffen und sich diesen zu stellen. Nur die Alleingebärende selbst vertraut auf ihre Kräfte und auf ihr Wissen, das sie in sich selbst trägt. 
 
Die Protagonistin aus Indien entscheidet sich für eine Entbindung mit einer Hebamme, da die indischen Krankenhäuser in den meisten Fällen einen Kaiserschnitt durchführen und dafür viel Geld kassieren, welches sie nicht besitzt. Eine Hebamme für eine Geburt zu organisieren ist viel günstiger. Die Geburt läuft ohne Komplikationen ab, Mutter und Kind sind wohlauf. Die Mutter hat sich einen Sohn gewünscht, wohl ein hochersehntes Ziel in Indien. Es ist allerdings ein Mädchen. Mit einem gleichgültigen, eher teilnahmslosen Blick beobachtet die Mutter, wie das Kind nach der Geburt herumgedreht, in die Luft geschmissen und durchgeschüttelt wird, bis es endlich in den liebevollen Armen der Schwester landet und sich bei dieser beruhigen kann. 
 
In Afrika sind das Leben und der Tod Teil des Alltags. Normalität. Allah gibt, Allah nimmt, wird dort gesagt. Die Geburten sind in Afrika von patriarchalen Traditionen geprägt: die Frau kann nicht zu Hause gebären, da dort im Zelt auch der Mann schläft. So wird ein provisorisches Zelt mitten in der Würste aufgebaut, das Kind wird faktisch im Sand geboren. Eine schmerzhafte Geburt, umgeben von der Mutter und weiteren Frauen und trotzdem ganz alleine, mündet im Tod des Neugeborenen. Als die Situation sich zuspitzt und die Vorahnung da ist, dass etwas bei der Geburt schiefläuft, kommt weder der Wehentropf noch die Geburtszange, noch die Saugglocke oder sonstige künstlichen Mittel zum Einsatz. Nein, es wird ein Schaf geschlachtet als Opfer für den Gott, damit das Leben des Kindes und der gebärenden Mutter erhalten bleiben. Nicht, dass der Frau der Tod ihres Kindes überhaupt nichts ausmacht, nein, es fließen Tränen aus ihren Augen. Sie sieht aber gleichzeitig die Natürlichkeit dieses Prozesses und bestätigt es mit einer einzigen Phrase: „Allah hat es entschieden, meinen Sohn zu nehmen, ich muss es akzeptieren“.
 
Ganz anders geht es zu in Sibirien. Das Land ist karg, die Natur unerbittlich. Minus 50 Grad kann es im Winter werden. Die Gebärende muss mit einem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus gebracht werden, ihr Mann bleibt bei den Rentieren zurück. Ganz alleine fühlt sie sich den Entscheidungen der Ärztin ausgeliefert, welche einen Kaiserschnitt anordnet, weil das Kind zu groß ist. Der Protagonistin fließt eine Träne über das Gesicht, sie fühlt sich ihrer Geburtsfreiheit beraubt, sagt sie. 
 
Das chinesische Krankenhaus sieht wie eine Inkubatorenstation der Zukunft aus. Kinder liegen in getrennten Schälchen, gereiht in einer riesengroßen Halle, getrennt von den Müttern. Man könnte denken, es handle sich um einen Fantasiefilm über die Zukunft der Geburt, aber nein, das hier ist die Realität, die uns mehr und mehr einholt und kaum noch Raum für „Andere“ schafft. 
 
„Ich werde oft gefragt, ob ich es verantworten kann, dass ich erzähle, wie schön und natürlich die Alleingeburt ist“ sagt Sarah Schmied in ihrem Video „Geburt verstehen“ ganz zum Schluss. Ihre Antwort darauf ist: vom ganzen Herzen „Ja“. 
 
Es kann nur jede für sich selbst entscheiden: übernehme ich die Verantwortung oder gebe ich diese ab? Spüre ich die Kraft in mir, es zu wissen, was bei einer Geburt zu geschehen hat, was mein Kind bei der Geburt braucht? Bin ich für Natur oder will in einer Inkubatorenstation der Zukunft leben.

vs

Foto: Bigbratze, wikicommons

die-frau.at